Ein in seiner Art einzigartiges Zeugnis aus der Zeit der Renaissance ist eine etwa 2 m hohe und 1 m breite Steinplatte am südlichen der beiden Kirchtürme des Klosters Niederaltaich. In sie ist ein Horoskop des für die Grundsteinlegung gewählten Zeitpunktes eingemeißelt. Die Astrologen des 15./16. Jahrhunderts waren überzeugt, dass das Werk der Menschen eingefügt ist in eine gesamtkosmische Vorgegebenheit im Rahmen der den Lauf der Welt bestimmenden göttlichen Ordnung. Das Horoskop ist in der quadratischen Weise gestaltet, die zur Zeit der Renaissance üblich war. In spätgotischer Schrift steht darunter:
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Als Tag der Grundsteinlegung ist also der 24. Juli des Jahres 1514 angegeben (nach dem damals noch nicht korrigierten Julianischen Kalender), als Bauherr des Turmes der Niederaltaicher Abt Kilian Weybeck (1503-1534). Der Bezug des Horoskops zu dem Kirchturm, an dem die Tafel angebracht ist, wird dadurch unterstrichen, dass mit dem Quadrat, in das das Horoskop eingefügt ist, das Grundraster festgehalten ist, nach dem die Maße und Proportionen des Turmes bestimmt sind. In dem lateinischen Text über dem Horoskop ist Kaiser Maximilian genannt und Papst Leo X. (1513-1521), der 1520 an der von ihm gegründeten Universität in Rom einen Lehrstuhl für Astrologie einrichtete.
Im Niederaltaicher Turmhoroskop gruppieren sich die zwölf „Häuser“ als Dreiecke um ein inneres Quadrat. Sie sind an der Außenseite beziffert, links mit dem ersten Haus beginnend. Innerhalb des Hauses ist jedes Mal angegeben, an welcher Stelle des Tierkreises es beginnt. Die Planeten sind – ohne nähere Angaben über ihre Position im Tierkreis – in die Häuser eingetragen, in denen sie sich ihren Positionen entsprechend befinden: Im zehnten und vierten Haus sind zudem die (wie Ösen dargestellten) Mondbahnknoten eingetragen. Das sind die beiden Punkte, an denen sich die Sonnenbahn mit der Mondbahn schneidet. Wenn Sonne und Mond genau an diesen Stellen in Opposition zueinander stehen, kann es zu einer Mondfinsternis, bei Konjunktion zu einer Sonnenfinsternis kommen. Das eine Mal wird dann der Mond, das andere Mal die Sonne gleichsam verschlungen. Seit alters bezeichnet man daher den aufsteigenden Mondbahnknoten als „Drachenkopf“ (caput draconis) und den absteigenden Mondbahnknoten als „Drachenschwanz“ (cauda draconis).
Türme sind in besonderer Weise Wahrzeichen, in denen Menschen sich selbst zur Darstellung bringen, wie die biblische Geschichte vom Turmbau von Babel zeigt (vgl. Genesis 11,4). Kirchtürme sind Zeichen des auf Gott ausgerichteten und – mit ihren Glocken – des von Ihm sich rufen lassenden Menschen. Eine Ausrichtung auf Gott kommt beim Niederaltaicher Turmhoroskop wohl auch im Datum der Grundsteinlegung zum Ausdruck. Der 24. Juli war damals der Vigiltag, d.h. der Tag der liturgischen Vorfeier des auch heute noch am 25. Juli begangenen Festes des heiligen Apostels Jakobus. Jakobus ist vor allem durch sein Heiligtum in Santiago de Compostela bekannt, eines der großen Pilgerziele. Besonders in Bayern war die Verehrung des Apostels Jakobus im 15. Jahrhundert sehr verbreitet. Er konnte somit als das Symbol pilgernden Unterwegsseins schlechthin gelten.
Auffällig ist besonders die Positionierung der Mondbahnknoten – Drachenkopf und Drachenschwanz. Sie bilden – abweichend von ihrer damaligen wahren Position - eine zentrale Achse des ganzen Horoskops, in der sich genau zwischen den beiden Mondbahnkonten der Mars befindet, der „rote“ Planet, der Aggressivität symbolisiert. Man gewinnt den Eindruck, dass gesagt sein soll, dass am Himmel der durch den Mars als aggressiv charakterisierte Drache aufgerichtet ist, und zwar vor dem (im oberen Dreieck eingezeichneten) Zeichen Jungfrau; dieses Zeichen hat den Mond gleichsam zu seinen Füßen und ist vom ganzen Ensemble der zwölf Sternbilder umringt. Das erinnert an die beiden „großen Zeichen am Himmel“ in der Offenbarung des Johannes 12,1-6. Das erste Zeichen: eine Frau, mit der Sonne umkleidet, den Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen; sie war schwanger und schrie vor Schmerz in ihren Geburtswehen. Das zweite Zeichen: ein Drache, groß und feuerrot; er stand vor der Frau, die gebären sollte, und wollte ihr Kind verschlingen, sobald es geboren war. Und weiter: „Sie gebar ein Kind, einen Sohn …, und ihr Kind wurde zu Gott und zu seinem Thron entrückt.“ Möglicherweise gewinnt es von hierher im Blick auf diese Errettung des neuen Lebens an Bedeutung, dass für die beiden Häuser, in denen die Mondbahnknoten stehen, die Anfänge – astronomisch nicht ganz korrekt – so gewählt sind, dass in diesen Häusern die Zahl 13 steht.
Dreizehn ist die Zahl, die die Zwölfzahl der kosmischen Vollkommenheit übersteigt. Der Fuldaer Mönch und Mainzer Bischof Hrabanus Maurus († 856), der auch noch zur Zeit des Abtes Kilian als geistlicher Lehrer geschätzt wurde, gibt in seiner Auslegung des Buches Ester eine Deutung der 13. Zunächst deutet er den dort – als Datum für die von den Feinden des Volkes Gottes geplante Vernichtung, tatsächlich aber erfolgte Errettung dieses Volkes – angegebenen zwölften Monat als Hinweis auf das letzte Weltzeitalter, d.h. auf jene „Endzeit“, in der der Erlöser Mensch geworden ist und die „militia“ Christi ihren geistlichen Kampf bestreitet. Der dreizehnte Tag in diesem Monat bezeichne als Waffen in diesem Kampf den Glauben an die Dreifaltigkeit und das Handeln nach den Zehn Geboten (13 = 3 + 10). Dadurch würden alle Feinde überwunden. Auch das Tierkreiszeichen Fische im vierten Haus, in dem im Niederaltaicher Turmhoroskop der Drache sich erhebt, weist auf die Herrschaft Christi über ihn und auf die von Christus erhoffte Rettung hin. Der Fisch gilt seit frühchristlicher Zeit als Symbol für Christus, lässt sich doch die Buchstabenfolge des griechischen Wortes ICHTHYS für „Fisch“ als Abkürzung für „Jesus Christus, Gottes Sohn, Heiland“ deuten. Durch nur sehr leichte Korrekturen der astronomischen Vorgaben ist also im Horoskop für die Niederaltaicher Kirchtürme erreicht, dass zwei ineinander verschränkte zentrale Aussagen dominierend ins Auge springen: zum einen eine astrologische Aussage und zum anderen eine weit darüber hinaus gehende heilsgeschichtliche Verheißung als festes Fundament für diese Türme, insofern sie auch Zeichen für den geistlichen Weg dieser Gemeinschaft sind.
Das innere Quadrat des Horoskops zeigt in der Mitte wie in einem Wellenmeer sieben einander zugeordnete Inseln – Bild einer in sich ruhenden Ganzheit der Welt des Menschen, seines Wohnlandes, die Zahl 7 ist Ausdruck dafür, dass die Welt des Menschen in ihrer „von Gott gewollten und geordneten Totalität“ auf kosmische Entsprechungen zum Himmel mit seinen siebentägigen Mondphasen und der Siebenzahl seiner Planeten gegründet ist. Auf zwei Inseln – auf den Inseln in der Mitte oben und unten – sind Menschen abgebildet, und zwar genau in der Mittelachse, die durch die Spitzen des zehnten und des vierten Hauses und durch die beiden Mondbahnknoten markiert wird. Auf der großen unteren Insel ist ein nach links gehender Mann zu sehen, der offenbar in der rechten Hand einen Wanderstab (möglicherweise – jedoch nicht eindeutig zu erkennen – mit den typischen Insignien des Pilgers) hält. Andererseits trägt er eine Waffenrüstung: Helm, Brustpanzer, Schuhe und an der linken Seite – von seiner Hand erfasst – ein Schwert. Er ist also sowohl als „Pilger“ gekennzeichnet als auch durch die „Waffenrüstung Gottes“ - durch den Panzer der Gerechtigkeit, den Helm des Heiles, das Schwert des Geistes und die Schuhe der Bereitschaft, für das Evangelium vom Frieden zu kämpfen (vgl. Eph 6,14-17). Auf der oberen Insel ist ein Mann dargestellt, der auf einem Pferd reitet, auch er nach links gewandt, mit der rechten Hand eine nach unten geneigte Lanze führend, auch er mit einem Helm, offenbar ein „Ritter“. Es muss offen bleiben, ob er als Gefährte des Pilgers und Soldaten Christi auf der unteren Insel zu deuten ist oder als jemand, der bereits auf einer „höheren“ Ebene kämpft, weil er das durch das Pferd verkörperte Animalisch-Triebhafte gebändigt hat. Das Gebäude, vor dem er sich befindet, ist offenbar eine Kirche, während es sich auf der unteren Insel eher um eine wehrhafte Burg handelt.
Die sieben Inseln sind von einem Kreis umschlossen, der sich in 72 Windungen gleichmäßig nach innen und außen windet. Die Zahl 72 ist insofern von Bedeutung, als 72 Sonnenjahre als ein „kosmischer Tag“ gelten, eine Zeitspanne, in der der Frühlingspunkt in den Sternbildern der Ekliptik um 1° vorrückt – um so viel wie die Sonne täglich. Zugleich gilt 72 in der Bibel und bei den frühen kirchlichen Schriftstellern als Gesamtzahl der Heiden, denen bis zum Ende der Zeiten die Heilsbotschaft zu verkünden ist (vgl. Lk 10,1). Die Zahl 72 bezeichnet daher nach dem bekannten mittelalterlichen Mönch und Lehrer Beda Venerabilis († 735) „die ganze Welt“, soweit sie vom Evangelium erleuchtet werden soll. Es ist auch die Zeit des Unterwegsseins, die in der Heiligen Schrift durch drei Tage (= 72 Stunden) angedeutet wird – drei Tage ohne Wasser in der Wüste (Ex 15,22); drei Tage, bevor der Jordan durchschritten werden kann ins verheißene Land (Jos 3,2). 72 lässt unseren Weg im Licht der Auferstehung Christi am dritten Tag erscheinen. In der jüdischen Überlieferung symbolisiert die Zahl 72 die Vielfalt des Namens Gottes. Entsprechend kennt die jüdische Kabbala 72 Attribute bzw. Kräfte Gottes. Falls Abt Kilian mit dieser Tradition vertraut war – was durchaus dem Geist der Renaissance entspräche –, käme mit den 72 Windungen des Kreises in unserer Darstellung auch zum Ausdruck, dass die 72 Attribute und Kräfte Gottes die sieben Inseln des menschlichen Wohnlandes gleichsam wie eine Ringmauer schützend umschließen.
Räumlich und zeitlich ist dieser Kosmos, in dem der Mensch seinen Weg zu gehen hat, also ein Ganzes, doch ist er nicht in sich verschlossen. Die Wellenlinien gehen über den Kreis hinaus. Und hier sehen wir den irdischen Kosmos vier heftig blasenden Winden ausgesetzt, die zugleich die vier Jahreszeiten symbolisieren und als die kosmischen Elementarmächte auch deren mikrokosmische Entsprechungen in den menschlichen Temperamenten. Diese kosmischen Kräfte sind von einem Quadrat fest umgrenzt: Wir gehen unseren Weg innerhalb einer Schöpfungsordnung. Deren Grenzen können weder wir noch die Kräfte der Natur, denen wir ausgesetzt sind, überschreiten (vgl. Ps 104,9). Alles hat im mittelalterlichen Weltbild gemäß der Ordnung Gottes seinen umgrenzten Platz.
Die Darstellung im inneren Quadrat präzisiert den Herrschaftsbereich der kosmischen Elementarmächte: Astrologisch berechenbar ist lediglich der von ihnen beherrschte irdische Lebensbereich des Klosters. Dazu gehören gewiss auch die irdischen Bedrohungen des Lebens bis hin zum Tod. Hier haben astrologische Aussagen aber auch ihre Grenze. Heil und Unheil werden darüber hinaus reichend in ihrer Endgültigkeit nicht von den Elementarmächten entschieden. Dass hier allein die Herrschaft Gottes dominiert, ist die eigentliche Botschaft des Niederaltaicher Turmhoroskops in einer Zeit, die durch Kriege, Seuchen und Naturkatastrophen erschüttert und darüber hinaus durch wissenschaftliche und religiöse Umwälzungen in ihrem Weltbild verunsichert war. Durch seine Weise, auf die Offenbarung des Johannes Bezug zu nehmen, ist dieses Horoskop ein Dokument gerade nicht einer Angst schürenden apokalyptischen Astrologie, sondern eine nüchterne Bekräftigung auf dem Weg eines hoffnungsgewissen Glaubens.
Ausführlichere Darstellung in: Die beiden Türme 2/2005, S. 91-110, erhältlich in unserem Klosterladen.